Zurück
Standpunkte, Stimmen und Kommentare
Standpunkte, Stimmen und Kommentare
Ohne Werbung können wir dieses Blog leider nicht betreiben. Deshalb bitte auf „Akzeptieren“ klicken, um das Blog mit Werbung zu nutzen und uns sowie unseren Werbepartnern das Setzen von Cookies zu gestatten (Zustimmung ist jederzeit widerrufbar).
Nein, ohne Werbung nutzen Akzeptieren >>
Details zu allen Cookies, über unsere Partnern und zur Möglichkeit, die Zustimmung zu widerrufen, gibt es in den Hinweisen zum Datenschutz.
Die Wochenzeitung DIE ZEIT gilt als kritische liberale Stimme. Der Wissenschafts- und Technik-Teil ist oft lehrreich. Als Schüler und Student habe ich die Beiträge über Geschichte und Politik von Größen wie Theo Sommer oder Helmut Schmidt jede Woche verschlungen. Kurzum DIE ZEIT steht für Qualität im Journalismus. Wahrscheinlich klickte ich deshalb kürzlich sofort, als die Mail der Google News-Übersicht zum Thema Oldtimer einen Link zur Webseite der Wochenzeitung enthielt. Mich lockte die Überschrift „Neue alte Autos: Fabrikneue Oldtimer statt teurer Originale“, die die Mail enthielt. Wer mich kennt, der weiß, dass ich regelmäßig über Oldtimer schreibe und als Moderator bei Oldtimer-Veranstaltungen tätig bin. Deshalb beobachte ich die Szene auch online, um keinen Trend zu verpassen. Und das Thema „Continuation-Modelle“ ist gerade ein heißer Trend.
„9to5“ bin ich im Marketing einer großen Versicherung tätig. Dort kümmere ich mich mit meinem Team um das Online-Marketing. Auch dazu gehört die regelmäßige Beobachtung des Marktes. Daher weiß ich, dass das mit den Webseiten der etablierten Medien immer so eine Sache ist. Sie sind oft unabhängig vom eigentlichen Blatt. Und selbst dort, wo Blatt und Webseite inzwischen redaktionell verschmolzen sind, bestücken die „Blätter“ ihre Webseite in sehr kurzen Abständen regelmäßig mit neuem Inhalt. Denn dies gilt als wichtige, ja fast unabdingbare Voraussetzung, um sich im Kampf um Aufmerksamkeit bei Google und Co. zu behaupten. Mit klassischer redaktioneller Arbeit ist das nicht zu leisten und vermutlich auch nicht wirtschaftlich.
Bestandteil vieler Redaktionen sind deshalb die sogenannten „Newsrooms“. Dort wird ständig Neues produziert. Wobei das Neue oft „nur“ Agenturmaterial ist, das dann in der Regel unverändert auf die Seite kommt. Für eine Überarbeitung (Kennzeichen „Mit Material von“) ist gar keine Zeit. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Selten war dieser Spruch so wahr, wie heute. Da die Schöpfungstiefe in den Newsrooms entsprechend gering ist, bezeichnen etablierte Redakteure diese Aufgabe gern als proletarische Tätigkeit des Nachrichtenwesens. Das passt, da sich hier Geschichte wiederholen könnte. Denn als aus Manufakturen Fabriken wurden, ersetzten schnell Maschinen Manneskraft. Den Mitarbeitern in den Newsrooms könnte es bald ähnlich ergehen! Ihre Aufgabe wird bald eine Künstliche Intelligenz (KI) übernehmen.
Glauben Sie nicht?
Dann gucken Sie einmal an unsere Börsen. In den 1980er- und 1990er-Jahren waren Börsenmakler an der Wallstreet, in London oder Frankfurt Götter. Sie waren in der Lage, die Gewinne einer Bank explodieren zu lassen. Weshalb eine solide Bank wie die Deutsche Bank alles auf diese Karte setzte, um ein Globalplayer zu werden. Doch genauso konnten Börsenmakler ebenso solide Banken zu Fall bringen, wie die traurige Geschichte von Nick Leeson zeigte. Um das Risiko zu begrenzen, handelt an der Mehrzahl der Börsen heute längst der Computer. Zumal sie Entscheidungen in Millisekunden treffen. Womit wir wieder beim Thema Geschwindigkeit sind.
Denn Algorithmen können auch in einem Newsroom schneller als ein Mensch entscheiden, was auf die Webseite kommt. Und irgendwann sind die Algorithmen so gut, dass sie die Aufgabe vollständig übernehmen. Sobald die vom Computer generierten Überschriften mehr Menschen anlocken als die, die Redakteure schreiben, sind Menschen an dieser Stelle überflüssig. Um inhaltliche Qualität geht es dabei nicht. Das zeigte Google News am nächsten Tag eindrucksvoll. Denn einen Tag später erhielt ich zahlreiche Hinweise auf den gleichen Artikel, den nun zahlreiche andere Medien ebenfalls publizierten. Denn der Artikel, der mich auf die Webseite der ZEIT lockte, war ein Beitrag von dpa-infocom.
Er zählte Fakten zur aktuellen Wellen der „Continuation-Modelle“ auf und blieb insgesamt extrem oberflächlich. Die Erwartungshaltung, die ich mit dem Namen der ZEIT verbinde, konnte dieser Artikel nicht im Ansatz befriedigen. Das war „Grevenbroicher Tagblatt“ und nicht DIE ZEIT. Aber am Ende wird das den Verantwortlichen egal sein. Schließlich besuchte ich die Webseite und verweilte sogar ein paar Minuten, um den aus Agenturmaterial bestehenden Artikel zu lesen. Das sind die am Ende die einzigen Werte, die Verantwortliche von Webseiten interessieren. Trotzdem denke ich, dass Agenturmaterial die Marke ZEIT beschädigt. Denn beim nächsten Mal bin ich vorsichtig und überlege, ob ich auf den Link der ZEIT klicke. So kann digitale Disruption auch aussehen – mit Agenturmaterial schaffen sich Marken ab!
Nachtrag vom 14. September 2022:
Inzwischen gibt es den Artikel (praktisch unverändert und unter dem Namen des Autor) auch auf der Online-Seite der Welt. Natürlich kann man sich das einfach machen und sagen, WELT-Leser lesen doch nicht DIE ZEIT lesen und die Sache ignorieren. Schließlich standen beide Zeitung einmal für völlig unterschiedliche politische Lager. Doch ich finde, dass die Verwendung des gleichen Artikels in so vielen „Zeitungen“ ein gutes Beispiel dafür ist, wie austauschbar sich Medienmarken mit Agenturmaterial machen.